Nicht zur Tagesordnung übergehen

Seelsorgende haben mit Schock auf die Missbrauchsstudie reagiert. Nicht deshalb, weil sie sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben, sondern weil sie die Schuld, welche die Kirche über Jahrzehnte auf sich geladen hat, nun ausbaden müssen. Ein Trost bleibt: Das offensichtliche Bagatellisieren und Ignorieren der leidvollen Tatsachen wären heute so vermutlich kaum mehr möglich. Wir alle sind hoch sensibel auf das Thema Missbrauch und Kirche geworden. Jeder Seelsorger, jede Seelsorgerin wird seit einem Jahrzehnt durchleuchtet auf seine oder ihre Vergangenheit. Die Kirche sieht sich in ihrer grössten Krise – vermutlich der noch grösseren als es die Reformationszeit war. Nicht zu Unrecht ist die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Vertreter infrage gestellt. Sexueller Missbrauch – sei es an Erwachsenen oder – noch schlimmer – an wehrlosen Kindern, gab und gibt es vermutlich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Jeder Missbrauch ist ein Skandal und zutiefst verwerflich. Die Kirche führt diese Rangliste zurecht an, da sie für sich den ethisch-moralischen Anspruch reklamiert. Jeder Missbrauchsfall hat die biblischen Prinzipien von Gerechtigkeit und Menschenwürde mit Füssen getreten. Was dies nun für die Kirche heissen wird, wird sich zeigen. Diese tiefe Glaubwürdigkeitskrise ist auch eine Chance: Die Kirche muss zu den Wurzeln Jesu zurückfinden. Sie muss ihre Strukturen überdenken und neu ordnen. Sie kommt nicht drum herum, sich die Zölibats- und Gechlechterfrage ernsthaft zu stellen. Und dennoch: Nun alle Priester und Bischöfe unter Generalverdacht zu stellen, ist unfair und zerstörerisch und wird der Aufarbeitung definitiv nicht gerecht. Der Kirche muss es gelingen, weniger Amt und Tradition in den Fokus zu stellen, sondern vermehrt die Menschen, was sie bewegt und vor allem, was der göttliche Geist in der Welt von heute von ihr fordert.