Die ukrainische Liste

Der Spielberg Klassiker aus den 90er Jahren kennen alle. Ein Film über die ominöse Liste des Industriellen Oskar Schindler, auf der 1200 Namen jüdischer KZ-Gefangener standen. Schindler, selbst NSDAP-Mitglied, lernte zu verstehen, dass es Situationen gibt, wo man einfach handeln muss. Er kaufte 1945 quasi 1200 jüdischen Leben frei und bewahrte sie vor dem Gas. Die Zeiten haben sich geändert. Die Gräueltaten, die Menschen vollbringen, leider nicht. Das Appenzellerland spricht in diesen Tagen über die sichere Überführung von 126 ukrainischen Schutzsuchenden aus Lemberg in die Ostschweiz. Fast ausschliesslich Frauen und Kinder, die ihre Söhne, Vätern Brüder, Ehemänner in der Ukraine zurücklassen mussten. Was sie erlebt haben in den vergangenen drei Wochen lässt sich hier nicht beschreiben.
Anfänglich standen ihre Namen in kyrillischer Schrift ebenfalls auf einer Liste, die wir aus Kiew erhalten haben. Es waren Namen von Kindern und Frauen, zu denen wir bis anhin keine Beziehung hatten. Nur Namen. Aber diese Namen bekamen exakt am vergangenen Mittwoch vor einer Woche an einem festgelegten Meetingpoint in der Nähe eines alten Klosters in Lemberg, plötzlich Gesichter. Jeder Name wurde zu einem Leben, zu einem aus dem Krieg geretteten Leben. Im Vorfeld kaum auch Kritik. Von «Hau-Ruck-Übung» war die Rede, von unüberlegtem, laienhaftem Handeln. «Wir sollen besser warten, bis der Staat handelt», hat man uns gesagt. Da war ja bloss die Liste mit den Namen. Wir hätten sie zerreissen und beim Lesen der Morgenzeitung aus sicherer Distanz erbarmen haben können mit den Menschen in der Ukraine. Wir haben’s nicht getan. Mutige sind aufgebrochen in die Ukraine für diese 126 Namen und haben die in Lemberg Gestrandeten herausgeholt aus dem Krieg. Die Liste, die für uns plötzlich lebendig wurde, stiess in der durchstrukturierten Schweiz auf eine andere Welt, auf die Welt der Behörden, die von Kontingenten und Zuweisungen reden, von Kosten und Registrierung. Ich bin den Behörden gegenüber nicht böse. Sie sind nicht in Lemberg am Meetingpoint mit den 126 Frauen und Kindern, sondern in der sicheren Schweiz in den Büros und Konferenzen und haben Regeln zu beachten. Sie sind in ihrer Welt. Alle tun ihren Job nach bestem Wissen. Doch die ukrainische Liste mit den Namen jener Menschen, die wir aus dem Krieg geholt haben, füllt sich im Appenzellerland immer mehr mit Leben, mit Betroffenheit, mit Solidarität und Engagement. Sie lässt Menschen fragen, was im Hier und Jetzt moralisch richtig und wichtig ist zu tun. Sie ist nicht einfach eine Liste geblieben, sondern ist zum Zeugnis einer mutigen christlichen Tat geworden. Für Hunderte, ja vermutlich Tausende im Appenzellerland wurden die Menschen aus Putin’s teuflischem Krieg in der Ukraine zum Anlass, wieder zusammenzurücken, menschlich zu handeln, Prioritäten zu setzen. Ja, der Krieg bringt das Schlimmste im Menschen hervor, aber auch das Schönste: die Nächstenliebe. Die 126 Menschen bringen nicht nur Arbeit und Stress. Sie beschenken uns auch. Sie holen uns heraus aus Rückzug und Lethargie. Sie befähigen uns das Gute einfach zu leben.